Pippi Langstrumpf im Jahr 2014 – Ein Gastkommentar von Oliver Wunderlich

Mehrere Dutzend Kindertagesstätten schmücken sich heutzutage mit dem Namen Astrid Lindgrens. Eine Generation von Pippi-Langstrumpf-Kindern ist heute Mama und Papa und da passen die Romanfiguren der schwedischen Autorin und die scheinbar unbeschwerten Kinderwelten prima ins drollig bunte Gesamtbild.

Aber es gibt auch andere Töne. Mark Spärrle schrieb z.B. in seiner Zeit-Kolumne ‚Familienglück‘ mit Augenzwinkern: „Vorsicht vor Astrid Lindgren!“ Seine Tochter wurde nach dem intensiven Studium von Lotta in DVD-Form rebellisch und äußerte unerträgliche Verbalinjurien wie „Oberblöde Mama!“. Das ging natürlich sooo auch nicht, weswegen der Autor seinen verblendeten Nachwuchs ins Kinderzimmer schicken musste.

Aber können wir Astrid Lindgren überhaupt als pädagogisches Symbol missbrauchen? Das hätte ihr wahrscheinlich nicht gefallen. Pippi erschien im September 1945 (Genau hundert Jahre nach dem Struwelpeter!), zu einer Zeit also, als Pädagogik noch bedeutete, die Kinder möglichst schnell zu unauffälligen, nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu formen. Noch galt es, den Trotz und den Willen des Kindes zu brechen. Schläge, Demütigungen, Strafen und Schimpfen waren die Mittel der Wahl. (Die ‚Schwarze Pädagogik‘) Nach dem riesigen Erfolg der Göre mit den roten Zöpfen schrieb z.B. die damalige Staatssekretärin Ewa Sällberg in der schwedischen Zeitschrift Husmodern: „Es ist recht ermüdend, dauernd von den Rechten der Kinder reden zu hören. Was Wunder, wenn sie selbstbewußt und schwierig werden bei all dieser Propaganda, die für diese ihre Rechte gemacht wird. Ihr gegenwärtig geliebtestes Buch – Bestseller also – handelt von einer jungen Dame, Pippi Langstrumpf, die immer macht, was ihr gerade einfällt. Sie ist nicht einmal in Freiheit erzogen, sie ist überhaupt nicht erzogen.“

Tatsächlich spielt Erziehung bei Pippi kaum eine Rolle. Sie ist das stärkste Mädchen der Welt, hat eine Truhe voller Gold und macht im buschstäblichen Sinn, was ihr gefällt. Sie ist aber auch mitfühlend, gerecht, nicht nachtragend und geduldig. Denn das muss sie mit den Erwachsenen in ihrer Welt auch sein. Diese wollen sie ständig erziehen und überzeugen, das ein Kind nicht so leben darf. Ab ins Kinderheim! Aber Pippi übersteht die Auseinandersetzungen mit der Tante Prusseliese, der Polizei und sogar mit Gaunern immer moralisch integer. „Großwerden? Nein, darum muß man sich wirklich nicht reißen“, sagt Pippi. „Große Menschen haben niemals etwas Lustiges. Sie haben nur einen Haufen langweilige Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern.“

Sie ist der Prototyp des kompetenten Kindes. Kinder leben bei Astrid Lindgren in ihrer eigenen Welt, die durchaus kein Paradies ist – Pippi vermisst ihre verstorbene Mama und sehnt sich nach ihrem Papa, den Negerkönig – und haben das Recht, das man ihnen auf Augenhöhe begegnet und für voll nimmt. Das scheint mir die gesamte Pädagogik in Astrid Lindgrens Büchern zu sein. Und deshalb waren sie auch so erfolgreich, denn sie waren für die Kinder geschrieben, nicht für die Eltern und machten deswegen einfach einen Riesenspass!

„Freie und un-autoritäre Erziehung bedeutet nicht, dass man die Kinder sich selber überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen. Verhaltensnormen brauchen wir alle, Kinder und Erwachsene, und durch das Beispiel ihrer Eltern lernen die Kinder mehr als durch irgendwelche anderen Methoden. Ganz gewiss sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen auch Eltern Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit missbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und allen Kindern wünschen.“ Astrid Lindgren

In den Zeiten der ‚pädagogischen Kindheit‘ (Hartmut von Hentig): „…im Kinderzimmer angesiedelt, in Baby-Schwimmkurs, Kindergarten und mit musikalischer Früherziehung verplant, abhängig vom elterlichen Fahrdienst und kontrolliert von den Erwachsenen.“ sollte man vielleicht aufpassen, das sich nicht die alten Prä-Pippi-Ideale durch die Hintertür der Elternliebe wieder einschleichen.

Sicher ist Berlin, Kreuzberg nicht gerade Bullerbü. Und in München, Pullach gibt es den Fuchs-Bandwurm und die bösen Zecken. In Hamburg, Altona lauert der Kinderschänder und in Porz, Köln die Jugendgangs. In Seehausen, Leipzig bedrohen die Laster die Kindheit und in iPhone, Apple ist es YouPorn. Trotzdem sollten wir Lotta wieder aus der heilpädagogischen Tagestätte holen, Michel von der Förderschule nehmen und Karlson-vom-Dachs Termin bei der Kinder- und Jugendpsychiaterin stornieren. Denn, wenn man genau hinkuckt, ist es eigentlich Pippi, die uns Erwachsene erzieht. Und wir haben das auch bitter nötig. Pippi forever – to hell with Lillifee!

Links:

Astrid Lindgrens Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978

Vorsicht vor Astrid Lindgren!

Begriff der „Schwarzen Pädagogik:

Und zum selber Vergleichen auf YouTube:
Prinzessin Lillifee: Wo ist Pupsi?
und
Pippi und der Spunk

Ein Gedanke zu „Pippi Langstrumpf im Jahr 2014 – Ein Gastkommentar von Oliver Wunderlich

  1. Stefan sagt:

    Spricht mir aus der Seele, wir lesen auch grade Pippi und unser Kleiner war selten von etwas so begeistert. Obwohl da manchmal zwei Seiten auch nur Text ohne Bilder ist. Zwei Sachen muß ich allerdings einräumen:
    – die Stelle, an der Pippi alle Arzneimittel in eine Flasche zusammenschüttet und das dann austrinkt lasse ich immer aus
    – habe mir aus „wissenschaftlichen Gründen“ den Prinzessin Lillifee Link mal angesehen und bin jetzt etwas verunsichert, weil ich es irgendwie nicht sooo schlimm finden kann. Bonbonbunt und etwas platt. Aber das geht auch schlimmer, find ich

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